Das kleine grosse Wunder

30. August 2021

Ruby mit ihrer grossen Schwester

Dass Ruby heute da ist und mich mit ihrem Leben so reich beschenkt, ist ein grosses Wunder, für das ich unendlich dankbar bin. Jetzt, aus der Retroperspektive muss ich sagen: Meine Tochter wollte leben. Von Anfang an!

Es war das Jahr 2019 und ich wollte sehr gerne noch einmal schwanger werden. Ich habe bereits zwei Kinder im Teenageralter und doch wünschte ich mir noch ein Kind. Als ich mich einer Operation unterziehen musste, führte ich deshalb zuerst einen Schwangerschaftstest durch, denn die Ärzte wollten nicht mit einer OP ein Baby gefährden. Der Test war zum Glück negativ, denn eine Schwangerschaft hätte die Ärzte vor Probleme gestellt.
Einige Wochen nach der OP war ein erneuter Test positiv! Ich war in der 9. Woche schwanger; das heisst, dass mein Kind schon während der Operation in mir war und den Eingriff überlebt hat. Für mich war das ein erstes Zeichen, dass dieses Kind leben wollte.

Ich war überglücklich – bis in der 12. Schwangerschaftswoche mir mein Frauenarzt mitteilte, dass die Nackenfaltenmessung Auffälligkeiten aufwies. Da ich mit meinen damals 41 Jahren zur Risikogruppe gehörte, führte ich in der 16. Schwangerschaftswoche weitere Tests durch, welche die Diagnose Trisomie 21 bestätigten. Die Spezialistin, die diese Untersuchungen durchführte, war fachlich kompetent und hat ihre Sache medizinisch gut gemacht. Ihre Reaktion auf die Diagnose hat mich aber doch befremdet. Sie sagte: «Wir vereinbaren nächste Woche einen Termin für Abtreibung, dann ist das Problem weg

Die Ärztin liess mich auch wissen, dass bei der Abtreibung das Kind geboren werden müsse, denn es wäre schon zu spät für eine chirurgische Abtreibung.

Ich war hin und her gerissen. Meine Beziehung war schon damals schwierig und mein Partner war mir keine grosse Hilfe, er hat aber auch keinen Druck gemacht, das Kind abzutreiben. Im Nachhinein betrachtet durchlief ich einen Prozess, der mich als Mensch enorm weitergebracht hat. Und ich vergleiche ihn gerne mit dem Häuten einer Zwiebel, wo man Schicht um Schicht zum Kern vordringt:

Nach dem ersten Schock und der Frage, weshalb dies gerade mir passiert, entschied ich mich, mir bewusst eine Woche Zeit zu nehmen. Ich wollte den Entscheid nicht überstürzen.

In dieser Zeit des Überlegens war mir meine 13-jährige Tochter eine grosse Hilfe und zwar durch ihre schonungslose Offenheit. Als ich ihr sagte, dass ich mir eine Abtreibung überlege, sagte sie:

«Könntest du wirklich dein Kind töten? Das ist falsch. Es ist meine Schwester und ich werde sie lieben.»

Dies hat mich zum Nachdenken gebracht und eine weitere Phase eingeläutet, wo ich versucht habe, mir bewusst zu machen, welche Vorurteile ich in mir trage. Welche Vorstellungen habe ich von einem «gesunden» Kind. Sind es die richtigen Vorstellungen? Was wäre, wenn ich ein gesundes Kind hätte, das durch einen Unfall behindert würde? Ich würde dieses Kind deswegen bestimmt nicht töten wollen.

Nachdem ich einiges an Fachliteratur gelesen hatte und mir klar wurde, dass ich persönlich diesen Entscheid jetzt treffen musste, war der nächste Schritt für mich zentral: Ich wollte mich unbedingt mit einer Familie treffen, die mit einem Kind mit Trisomie 21 lebte. Denn ich wusste, eine solche Familie würde meine Ängste aus tiefstem Herzen verstehen. Und ich könnte überprüfen, ob meine Sorgen berechtigt waren.

Durch eine Freundin fand ich den Weg zu hope21 und der Kontakt mit einer HopeFamily aus der Region war sehr schnell hergestellt. Ich habe mich kurz darauf mehrmals mit der Mutter getroffen und diese Treffen waren für mich unglaublich wichtig in meinem Entscheidungsprozess. Ich fühlte mich vom ersten Moment an wertgeschätzt, verstanden und unterstützt. Ich konnte aus erster Hand sehen, was es bedeutet, einen Alltag zu leben mit einem Kind mit Zusatzchromosom. Der Alltag war total unkompliziert und herzlich. Bei diesem Kind sah ich, wie wenig Menschen mit Down-Syndrom beeinträchtigt sind. Diese Begegnung, aber auch weitere Telefonate und WhatsApp-Konversationen half mir enorm, meine Ängste abzubauen!

Ein abschliessendes Telefongespräch mit der Mutter hat schliesslich dazu geführt, dass ich mich fürs Leben meiner Tochter entschieden habe. Dass ich am letzten Punkt meines Prozesses angekommen war, ich merkte, ich muss auf mein Herz hören. Ich muss auf mein Kind hören. Und als ich diesen Entscheid fürs Kind gefällt habe, habe ich eine grosse Liebe gespürt. Ich wusste, meine Tochter ist schon da und sie gehört zu uns. In diesem Moment war für mich alles klar und leicht. 

Als Ruby in der 24. Schwangerschaftswoche Wasser auf der Lunge hatte, wurde mir von meiner Frauenärztin, die Komplikationen erwartete, erneut eine Abtreibung nahegelegt. In einer Zeit der Schwangerschaft also, wo das Baby schon ausserhalb des Mutterleibes überlebensfähig wäre.

Wenn ich im Nachhinein daran denke, wie nahe ich damals – trotz meines Entscheides fürs Leben – nochmals einer Abtreibung kam, so bricht es mir fast das Herz.

Aber Ruby wollte leben – auch jetzt.

Und am 6. März 2020 kam sie, 42 cm gross und 1100 g schwer zur Welt. Mit Ausnahme eines kleinen Eingriffs am Darm gab es keine Komplikationen und mein Mädchen ist gesund!

Sie bereichert unser Leben enorm und auch meine zwei grossen Kinder haben eine riesen Freude und fühlen sich enorm beglückt durch ihre kleine Schwester.

Wenn ich mit meiner Geschichte nur eine Frau erreichen kann, die sich für das Leben ihres Kindes entscheidet, so hat sich das er Erzählen meiner Geschichte schon gelohnt!

Ruby mit ihrer Mutter