«Habt es mal lieb. Alles andere lernt ihr zusammen.»

22. November 2021

Der bekannte Bündner Liedermacher Linard Bardill äussert sich im Interview mit hope21 offen und ehrlich zum Leben mit seinem Sohn mit Down-Syndrom.

Lieber Herr Bardill, Ihr 16-jähriger Sohn Liun hat das Down-Syndrom. Was ist eigentlich das Schönste daran, Vater eines solchen Kindes sein zu dürfen?
Er ist ein kleiner oder bald grosser Meister für mich. Er zeigt mir, wie man mit der Zeit anders umgehen kann, mit den Elementen, dem Wasser zum Beispiel oder mit dem Geheimnis des Lebens. Er ist stets lebendig. Er hat zwar etwas im Kopf, aber das ist immer mit seinem ganzen Körper verbunden.

Trotzdem: Eine Diagnose macht viele Eltern im ersten Moment grosse Angst. Ist es Ihnen auch so gegangen? Was würden Sie Eltern raten, welche frisch eine solche Diagnose für ihr Kind erhalten haben?
Habt es mal lieb. Alles andere lernt ihr zusammen. Das hat uns unsere Kinderärztin gesagt. Während im Spital extrem viel Hektik und diese Zeit für uns eine traumatisierende Erfahrung war, haben wir dann versucht zuhause einfach mal das Kind zu erleben, es zu berühren und lieben zu lernen. Ich empfand Liun als ein wirkliches Kraftfeld. Nach dem ersten Schock, der bei mir etwas schneller wieder abebbte als bei meiner Frau, wusste ich in meinem Herzen: das wird gut. Und es war schon gut. Zuerst gernhaben, den Rest lernen wir gemeinsam. Und so war es dann auch mehrheitlich.

Sie sind ein schweizweit bekannter Künstler und Liedermacher. Inwieweit hat sich Ihr Alltag und Ihr Leben seit der Geburt von Liun verändert?
Ich wurde sensibler auf die Zwischentöne, merkte, dass ganz viele Menschen in einer gewissen Weise eine Behinderung aufweisen. Wie viele von uns wurden geschlagen oder haben psychische Gewalt erlebt? Kinder wollen zuerst einmal nur eines: Geborgenheit erfahren und Entdeckerlust leben können. Nähe und Distanz in einer guten Balance halten. Die wenigsten Menschen haben das wirklich erfahren. Wer steht schon ohne Trauma, das er kompensiert, in der Welt? Wir alle wurden geprägt von irgendwelchen Formen von Gewalt oder Herabminderung, von Angst. Diese Traumata wirken sich wie Behinderungen aus. Wir leben dann unsere Beziehungen entsprechend, scheitern immer wieder am gleichen. Liun schien mir am Anfang behindert. Doch heute würde ich sagen, er ist ein Mensch im ganzen Sinn des Wortes. Und es braucht ihn in dieser Welt. Er ist der Sinn seines Lebens. Wie ich der Sinn meines Lebens bin. Und gemeinsam sind wir der Sinn des Lebens, mit unzähligen andern Menschen zusammen.
Als Künstler hat er mich zu vielen Liedern und Geschichten inspiriert. Der Limmat Verlag hat ein Buch mit dem Titel «Der kleine Buddha» herausgegeben. Da sind meine Erfahrungen und Erlebnisse mit Liun als Sammlung von Kolumnen publiziert, die in der Coopzeitung erschienen. Dazu eine CD, wo ich viele Erlebnisse schildern konnte. Es entstand auch ein Bühnenprogramm als Lesung und Konzert.
Und Liun hat mich angeleitet, bei Kindern im Spital zu singen. Da machen wir gemeinsam mit der Stiftung Sternschnuppe sogenannte Bettkantenkonzerte in sieben Spitälern der Schweiz.

Was wünschen Sie sich von uns als ganzer Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit DownSyndrom? Sobald diese Menschen auf der Welt sind, ist das Angebot für Eltern ja sehr gut und die Hilfe ist grosszügig. Menschen mit Down-Syndrom können heute alles erreichen, was andere auch erreichen. Trotzdem entscheiden sich rund 90 % der Eltern für eine Abtreibung. Was braucht es, um dies zu ändern?
Ich kann da nicht urteilen. Und schon gar nicht verurteilen. Weil unsere Familie aber die Erfahrung gemacht hat, dass es diese Menschen braucht, ganz dringend nötig braucht, finde ich es eine Tragödie. Diese Menschen halten uns vom Burnoutmodus fern, wenn wir uns auf sie einlassen. Sie sind präsent, immer im Hier und Jetzt. Sie inspirieren, sie lachen so oft. Und sie nerven auch. Da können wir Geduld lernen.
Der Gesellschaft wünsche ich, dass sie Menschen mit besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten nicht einfach in Institutionen parkiert. Auch Liun will ein sinnvolles Leben leben. Er macht jetzt gerade auf dem Bauernhof Wagenburg in Seegräben eine IV-Lehre als landwirtschaftlicher Mitarbeiter. Seine Arbeit mit den Tieren macht ihm Freude. Und die Rüebli, die er sortiert oder pflückt werden von anderen Menschen gegessen. Ich wünsche mir, dass mehr Begegnung stattfindet, weniger Separation herrscht. Wir machen jetzt gerade eine Tournee mit Waldkonzerten für alle, überall werden auch Menschen wie Liun eingeladen sein und sicher mitsingen und mittanzen. Link: www.bardill.ch.

In einem Interview sagten Sie einmal: «Ein Kind mit Down-Syndrom, meint man so, sei behindert. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass nicht das Kind behindert ist, sondern mein Denken.» Können Sie diesen Satz für unsere Leser etwas näher erläutern?
Liun hat jahrelang am Brunnen gespielt und mit dem Wasserstrahl experimentiert. Das ganze Dorf weiss, er ist der Brunnenmeister von der Crestaquelle. Nach einigen Jahren, sicher sieben oder acht, fragte ich ihn einmal: Liun, was machst du eigentlich mit dem Wasserstrahl.
Da sagte er mir «Regenbogen!» und ich fragte mich, wer da eigentlich behindert ist.

Die Hauptfigur Ihrer berührenden Weihnachtsgeschichte, welche unsere Leserinnen und Leser auch in dieser Ausgabe finden, heisst Berndhold. Wie kamen Sie eigentlich auf diesen Namen?
Er ist hold, wie das Kind in der Krippe. Bernhard von Aosta gründete das Hospiz auf dem dem grossen Sankt Bernhard, der heute nach ihm benannt ist,. Von dort kommen die Bernhardinerhunde, welche die Wanderer mit Schnaps labten. So geht jedenfalls die Legende. Ich finde, Menschen mit Down-Syndrom laben uns auf unserem schweren Weg, zwar nicht mit Schnaps, aber mit Lachen, mit einer unglaublichen Sensibilität, und wenn wir sie in unser gemeinsames Leben miteinbeziehen, indem wir sie immer wieder fragen, was sie wollen, was sie denken, dann können wir unser blaues, rotes oder gelbes Wunder erleben.

Haben Sie ein Schlusswort an alle unsere Leserinnen und Leser, an alle unsere HopeFamilies aus der ganzen Schweiz?
Liebt euer Kind, den Rest lernt ihr gemeinsam!